Autobiographien
Autobiographien als spannendes Untergebiet der Biographien
Eine der spannendsten Sparten in der Literatur sind die Autobiographien als Untergebiet oder Sondergebiet der Biographien. Autobiographien sind Beschreibungen des eigenen Lebens seit der Geburt, umfassen also die gesamte Retrospektive des eigenen Seins außer dem Tod und beinhalten den subjektiven Blick auf die jeweiligen zeitgenössischen gesellschaftlichen Zustände, die politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse einer Epoche. Autobiographien unterscheiden sich damit von den Memoiren, die doch lediglich bestimmte Erlebnisse oder auch nur ein festgelegtes Zeitfenster aus einer determinierten Sichtweise heraus beschreiben. Sie sind auch nicht vergleichbar mit Biographien, also Lebensläufen, die von Fremdautoren verfasst werden und bei Weitem nicht die Tiefe der persönlichen Eindrücke auch aus der Sicht der sich steigernden Sozialisierung des werdenden Menschen vom Kind zum Erwachsenen darstellen können. Autobiographien unterscheiden sich auch von Tagebüchern, welche täglich ausgefüllt werden, während Autobiographien doch in einem gewissen Abstand verfasst werden. Nichtsdestotrotz sind Tagebücher bei etlichen Autoren wichtige Grundlagen für Autobiographien. In den letzten Jahrzehnten hat sich ein Trend verfestigt, Autobiographien von Fremdschreibern verfassen zu lassen. Die Bezeichnung „Ghostwriter“ hat sich hier eingebürgert. In diesen Fällen steht allerdings zuvorderst die Absicht der wirtschaftlichen Vermarktung im Vordergrund; bei den alten selbstgeschriebenen Autobiographien der vergangenen Jahrhunderte kann zumindest diese Absicht nicht prioritär gewesen sein, fehlten doch ganz einfach die Voraussetzungen für eine sachgerechte Vermarktung. Autobiographien entstanden oftmals aus der Absicht, der familiären Nachwelt etwas Persönliches zu hinterlassen oder der Absicht, nachkommenden Generationen eine subjektive textuale Beschreibung einer Zeitepoche zur späteren möglichst objektiven geschichtlichen Einordnung an die Hand zu geben. Autobiographien sind also wichtige Zeitdokumente, um vorhergehende Epochen einzuordnen.
Geschichte der Autobiographien
Autobiographien sind aus frühester Zeit bekannt. Ich erinnere als frühes Beispiel an den Kirchenvater Augustinus von Hippo Regius, der ab dem Jahre 375 Professor für Rhetorik in Thagaste und Karthago war und ab 390 als Prister zum Führer der Kirche im Abendland heranreifte. Seine niedergelegten Regeln wurden später zum Reguliar des Augustinerordens. Um das Jahr 400 schrieb Augustinus seine „Confessiones“, seine „Bekenntnisse“. Hierin beschreibt Augustinus sein Leben vor der Bekehrung zum Christentum bis zur Bekehrung. Seine „Bekenntnisse“ werden zu den ältesten Autobiographien gezählt. Im hohen Mittelalter um 1370 werden die Lebensberichte des italienischen Dichters Francesco Petrarca, einem Mitbegründer des europäischen Humanismus, verfasst und bilden einen weiteren Meilenstein auf dem Gebiet der Autobiographien. Ebenfalls von europäischem Interesse und vorprägend für Form und Inhalt der nachfolgenden Autobiographien sind die „Bekenntnisse“, „Les confession“, von Jean-Jaques Rousseau ab 1782 sowie ab 1777 die „Lebenserinnerungen“ des Arztes und Wissenschaftlers Johann Heinrich Jung-Stilling, einem Zeitgenossen und Freund Goethes.
Der gesellschaftliche Wert von Autobiographien
Wir Menschen sind nun mal von Grunde her sehr neugierig; so möchten wir natürlich wissen, wie vormals gelebt, gedacht, gehandelt wurde. Wie lebte man zum Beispiel im 18. Jahrhundert auf dem Land oder in der Stadt? Wie waren die Lebensumstände, wie hart war das Leben, wie sorgte man für seinen Lebensunterhalt, wie empfand man die oftmals kriegerischen Auseinandersetzungen, waren die Hemmschwellen damals andere als heute? Alles das sind äußerst spannende Fragen!
Viele Antworten finden sich in den Autobiographien bekannter und unbekannter Autoren. Ich möchte stellvertretend auf die wohl bekannteste deutsche Autobiographie eingehen. Für mich ist es die Mutter der Autobiographien, nämlich „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“ von einem unserer Größten, von Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832). Seine Autobiographie ist zwischen den Jahren 1808 und 1831 entstanden. Goethe reflektierte hier die Jahre von 1749, dem Jahr seiner Geburt in Frankfurt a. Main über seine Jahre in Leipzig und Straßburg bis 1775, dem Beginn seiner Weimarer Zeit, in vier Teilen und zwanzig Büchern. Im nachfolgenden Absatz seines ersten Teiles beschrieb Goethe, wie er als Zehnjähriger den Einmarsch der französischen Truppen in seiner Heimatstadt Frankfurt erlebte. Solche zeitgenössischen Beschreibungen liefern uns fast nur die Autobiographien.
„Der Neujahrstag 1759 kam heran, für uns Kinder erwünscht und vergnüglich wie die vorigen, aber den altern Personen bedenklich und ahnungsvoll. Die Durchmärsche der Franzosen war man zwar gewohnt, und sie ereigneten sich öfters und häufig, aber doch am häufigsten in den letzten Tagen des vergangenen Jahres. Nach alter reichsstädtischer Sitte posaunte der Türmer des Hauptturms, so oft Truppen heranrückten, und an diesem Neujahrstage wollte er gar nicht aufhören, welches ein Zeichen war, daß größere Heereszüge von mehreren Seiten in Bewegung seien. Wirklich zogen sie auch in größeren Massen an diesem Tage durch die Stadt; man lief, sie vorbeipassieren zu sehen, sonst war man gewohnt, daß sie nur in kleinen Partien durchmarschierten; diese aber vergrößerten sich nach und nach, ohne daß man es verhindern konnte oder wollte. Genug, am 2. Januar, nachdem eine Kolonne durch Sachsenhausen über die Brücke durch die Fahrgasse bis an die Konstablerwache gelangt war, machte sie Halt, überwältigte das kleine, sie durchführende Kommando, nahm Besitz von gedachter Wache, zog die Zeile hinunter, und nach einem geringen Widerstand mußte sich auch die Hauptwache ergeben. Augenblicks waren die friedlichen Straßen in einen Kriegsschauplatz verwandelt. Dort verharrten und biwakierten die Truppen, bis durch regelmäßige Einquartierung für ihr Unterkommen gesorgt wäre.
Diese unerwartete, seit vielen Jahren unerhörte Last drückte die behaglichen Bürger gewaltig, und niemanden konnte sie beschwerlicher sein als dem Vater, der in sein kaum vollendetes Haus fremde militärische Bewohner aufnehmen, ihnen seine wohlaufgeputzten und meist verschlossenen Staatszimmer einräumen, und das, was er so genau zu ordnen und zu regieren pflegte, fremder Willkür preisgeben sollte; er, ohnehin preußisch gesinnt, sollte sich nun von Franzosen in seinen Zimmern belagert sehen: es war das Traurigste, was ihm nach seiner Denkweise begegnen konnte. Wäre es ihm jedoch möglich gewesen, die Sache leichter zu nehmen, da er gut französisch sprach und im Leben sich wohl mit Würde und Anmut betragen konnte, so hätte er sich und uns manche trübe Stunde ersparen mögen.“ (Johann Wolfgang von Goethe, „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“)
Eine weitere Passage aus dem siebten Buch über die deutsche Sprache erinnert uns, dass wir heute bezüglich unserer Sprache nahezu identische Probleme anzugeben hätten; ich erinnere an die Durchdringung unserer Sprache mit vorwiegend englischen Redewendungen, was sich durch die Bezeichnung „Denglisch“ hervorragend ausdrücken lässt. Goethe schrieb: „Die literarische Epoche, in der ich geboren bin, entwickelte sich aus der vorhergehenden durch Widerspruch. Deutschland, so lange von auswärtigen Völkern überschwemmt, von andern Nationen durchdrungen, in gelehrten und diplomatischen Verhandlungen an fremde Sprachen gewiesen, konnte seine eigne unmöglich ausbilden. Es drangen sich ihr, zu so manchen neuen Begriffen, auch unzählige fremde Worte nötiger und unnötiger Weise mit auf, und auch für schon bekannte Gegenstände ward man veranlaßt sich ausländischer Ausdrücke und Wendungen zu bedienen. Der Deutsche, seit beinahe zwei Jahrhunderten in einem unglücklichen tumultuarischen Zustande verwildert, begab sich bei den Franzosen in die Schule, um lebensartig zu werden, und bei den Römern, um sich würdig auszudrücken. Dies sollte aber auch in der Muttersprache geschehen; da denn die unmittelbare Anwendung jener Idiome und deren Halbverdeutschung sowohl den Welt- als Geschäftsstil lächerlich machte. Überdies faßte man die Gleichnisreden der südlichen Sprachen unmäßig auf und bediente sich derselben höchst übertrieben. Ebenso zog man den vornehmen Anstand der fürstengleichen römischen Bürger auf deutsche kleinstädtische Gelehrtenverhältnisse herüber, und war eben nirgends, am wenigsten bei sich zu Hause“.(Johann Wolfgang von Goethe, „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“, siebtes Buch)
Auch den Umgang mit dem anderen Geschlecht, den Frauenzimmern, lernen wir bei Goethe kennen: „Die Gestalt dieses Mädchens verfolgte mich von dem Augenblick an auf allen Wegen und Stegen: es war der erste bleibende Eindruck, den ein weibliches Wesen auf mich gemacht hatte; und da ich einen Vorwand, sie im Hause zu sehen, weder finden konnte noch suchen mochte, ging ich ihr zu Liebe in die Kirche und hatte bald ausgespart, wo sie saß; und so konnte ich während des langen protestantischen Gottesdienstes mich wohl satt an ihr sehen“. (Johann Wolfgang von Goethe, „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“, fünftes Buch)
Ausblick
Es lohnt sich also, hier, und das nicht nur als Sammler von Autobiographien, einzutauchen und andere Welten in ganz anderen Sprachstilen auf unterhaltsamste Art zu genießen. Man sieht, dass diese Lebens- und Epochenbeschreibungen den „Zeitgeist“ viel unmittelbarer und unverstellter, wenn auch aus subjektiver Sicht, darstellen können als es heutige Lern- und Geschichtsbücher, die immer eine perspektivisch verkürzende Sichtweise an den Tag legen, vermögen. In diesem Sinne möchte ich auf weitere große Autoren mit Autobiographien hinweisen wie zum Beispiel Gottfried Seume „Mein Leben“, Charles Chaplin „Die Geschichte meines Lebens“, August Bebel „Aus meinem Leben“, Walter Benjamin „Berliner Kindheit um 1900“, Karl May „Mein Leben und Streben“ oder der „Ecce homo“ von Friedrich Nietzsche.
siehe auch